Das Projekt „WalkAway“:
Die heilende Kraft des Alleinseins
und der Stille
von Peter Maier
Dieses an schamanische Rituale angelehnte Projekt finde ich besonders schön und möchte es daher den Lesern vorstellen. Gerade in der heutigen Zeit wird die junge Generation viel zu sehr von der Mobilfunk-Technik und den Medien „verführt“ und kommt auf diese Weise gar nicht mehr richtig bei sich an. Und wir wissen, die neue Generation sind die Indigo- und Kristallkinder, deren Herz eigentlich weit offen sein müsste. Susanne Sejana
Zwei Mädchen und drei Jungen meiner Schule haben sich heuer dafür entschieden, das Ritual des Walk Away zu machen. Alle sind 16 Jahre alt und haben soeben die Mittlere Reife am Gymnasium geschafft. Schon am ersten Ferientag geht es los. Übersetzen würde ich WalkAway mit „Gehe Deinen Weg zu Dir selbst“. Es handelt sich um eine Zeremonie zum Erwachsenwerden, in der jeder Jugendliche kräftig mit sich selbst konfrontiert wird. Geleitet wird dieses naturpädagogische Seminar von mir selbst, einer Heilpraktikerin und meiner Frau, die auch Lehrerin am Gymnasium ist. Der Tagungsort ist ein Biobauernhof mit großem Seminarraum in der Nähe eines Dorfes – etwa 60 Kilometer westlich von München. Dort findet während der ersten zwei Tage ein Teil der Aktivitäten statt. Nur etwa 500 Meter vom Hof entfernt befindet sich ein mehrere Quadratkilometer großes Waldstück. Hier wird dann nach einer gründlichen Vorbereitung mit Naturübungen der eigentliche Kern des Rituals, die Solozeit, ablaufen. Denn darauf zielt die ganze Veranstaltung hin: Jedes Mädchen und jeder Junge muss 24 Stunden allein im Wald überstehen. Doch soweit ist es noch nicht.
Aufgabe von uns Leitern ist es nämlich, die Jugendlichen in den zwei Tagen der Vorbereitung Schritt für Schritt auf ihren Aufenthalt ganz allein in der Natur hinzuführen. Nach einem ersten Treffen im Seminarraum geht es auch schon hinaus in die Natur. Nur ein einziges Mal noch sind die Jungen und Mädchen als Gruppe unterwegs: Gemeinsam mit den Leitern wird zum groben Kennenlernen das Waldgelände abgegangen und erklärt, wo die Grenzen des Naturraums für die Übungen liegen sollen. Dann wird vor dem Wald das „Basis-Lager“ aufgeschlagen. Hier sind die Leiter immer zu erreichen. Und hier werden sie die Teilnehmer während ihrer Übungen und während der Solozeit innerlich begleiten. Damit die Jugendlichen dann schnell in die richtige Ebene – die persönliche Ebene – gelangen können, werden sie nachmittags auch schon mit einer ersten einführenden konkreten zweistündigen Aufgabe in den Wald geschickt – natürlich allein:
„Gehe hinaus in die Natur und suche dir einen Platz, der dir gefällt. Sitze still und lausche auf alle Geräusche – erst auf die nahen, dann auf die ferneren. Rieche und fühle. Was alles nimmst du wahr? Stelle dir dann die Frage: Warum bin ich hier an diesem Ort? Was ist meine Absicht bei diesem WalkAway? Komme dann mit deiner Antwort zurück zum Lager.“
Bevor aber der einzelne weggeht, legt er sich selbst eine Schwelle auf den Boden. Diese kann aus einigen Steinen oder kleinen Ästen bestehen. Denn jede Übung ist im Grunde ein dreiteiliges Ritual: Mit dem Überschreiten der Schwelle tritt der Jugendliche in einen anderen Raum, ja in eine andere Welt ein – in die Welt der Natur mit all ihren Wesenheiten, also in eine Art von „Anderswelt“. Bei seiner Rückkehr überschreitet der Jugendliche die Schwelle dann in die andere Richtung. Dies markiert das Ende des Rituals, das Verlassen der Naturwelt und den Wiedereintritt in die „Realwelt“, also in die dem Jugendlichen sonst vertraute und bekannte Welt.
Der eigentliche Hauptteil des Rituals ist die Zeit dazwischen – „Schwellenzeit“ genannt. Alles, was dem Jugendlichen dabei widerfährt – interessante Tierbegegnungen, Sehen auffälliger Bäume, schöne Naturräume wie Waldlichtungen, Auffinden von besonderen Steinen und alle Gedanken, die ihm dabei hochkommen – gehört zu diesem Ritual und kann eine Bedeutung für den eigenen seelischen Prozess haben. Nicht umsonst trägt die Zeremonie des WalkAway ja auch den Untertitel „Erwachsenwerden im Spiegel der Natur“. Das bedeutet, dass Mutter Natur mit all ihren Wesenheiten, Kräften und Erscheinungen – mit Pflanzen, Tieren, Steinen, Formationen – wie ein Spiegel für die eigene Entwicklung gerade beim Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen sein kann. Wichtigste Grundbedingung dafür ist es aber, dass jede Naturübung von den Jugendlichen ganz alleine gemacht wird. Er gilt in der Schwellenzeit als unsichtbar – für uns Leiter, für die anderen Teilnehmer und auch für etwaige Spaziergänger und Wanderer, die ihm vielleicht über den Weg laufen könnten.
Nach jeder Übung wie dieser trifft sich die Gruppe dann mit den Leitern im Kreis vor dem Wald. Nun erzählt jeder Teilnehmer von seinen Erlebnissen und davon, welche Ergebnisse ihm diese Übung gebracht hat. Als Kommunikationsmittel wird dabei ein sogenannter Sprechstab verwendet. Nur wer ihn in den Händen hält, hat Rederecht, alle anderen haben Schweigepflicht. Auf diese Weise wird dafür gesorgt, dass es keine Rivalitätskämpfe in der Gruppe gibt und jeder seine Geschichte konzentriert und ruhig erzählen kann. Am Ende jeder Geschichte geben die Leiter einen motivierenden Kommentar ab. Vor allem achten sie auf Hinweise in den Erzählungen, die auf den Stand oder Prozess der Persönlichkeitsentwicklung hindeuten. Dies wird dann den Jugendlichen einfühlsam und bestärkend gespiegelt, das heißt bewusst gemacht.
Dieser Ablauf wird zwei Tage lang beibehalten. Führen lassen sich die Leiter beim Stellen der Naturaufgaben vom keltischen und indianischen „Medizinrad“ als Hintergrund. Hier handelt es sich einfach um einen Kreis mit den vier Himmelsrichtungen. Jeder der vier Richtungen ist ein Element, eine Farbe, eine Jahreszeit, eine psychische Qualität, ein Lebensabschnitt und eine archetypische Figur im Menschen zugeordnet:
1Im Süden liegen das Feuer, die bunten Farben, der Sommer, die unmittelbaren Gefühle und Triebe, die Kindheit und das „innere Kind“. Dieses will Spielen und Freude haben.
2Im Westen werden das Element Wasser, die Farbe schwarz, der Herbst, die widerstrebenden Kräfte der Psyche, die Licht- und Schattenseiten des Menschen, die Jugendzeit und der „Krieger“ angesetzt. Er ist bereit zum Kämpfen, vor allem mit sich selbst und den eigenen Seelenkräften.
3 Im Norden sind das Element der Erde, die Farbe weiß, der Winter, die Klarheit von Vernunft und Verstand, das Erwachsensein und der „König“ verankert. Er versucht, dem eigenenLeben eine Struktur zu geben, den Überblick zu behalten und Verantwortung zu übernehmen – für sich und andere.
4Im Osten schließlich sind das Element Luft, die Farbe gelb-grün, der Frühling, der Geist mit seiner Liebesfähigkeit und Spiritualität, die Verbundenheit mit dem All-Eins, die Lebensphase des Alters und die Figur des „Magier“ zu finden.
Somit stellt das Medizinrad ein System dar, das den ganzen Menschen erfassen und abbilden will – mit Körper, Psyche, Geist und Spiritualität. Damit die Jugendlichen sich seelisch besser kennenlernen können, bekommen sie während der zweitägigen Vorbereitung wenigstens je eine Aufgabe zu jeder Himmelsrichtung. Da es aber beim WalkAway zumindest ansatzweise bereits um den Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen geht, ist in der 24-stündigen Solozeit der Krieger besonders gefragt. Er soll daher auch mit einer der nächsten Naturaufgaben besonders aktiviert werden:
„Überschreite die Schwelle und gehe hinaus in die Natur. Suche einen Platz, an dem es eine Verwundung oder Verletzung gibt – etwa einen umgeknickten Baum, einen abgerissenen Ast oder eine Stelle mit Kahlschlag. Schaue dir dann diese Verletzung genau an und frage dich: Was hat diese Verwundung mit mir und meinem Leben zu tun? Wenn du dir darüber klar geworden bist, drehe dich um und frage dich erneut: Welche Kraft ist mir aus dieser meiner Wunde erwachsen? Mit dieser Antwort komme dann zurück in unseren Kreis.“
Jeder Jugendliche hat nach seiner Rückkehr eine authentische Geschichte mit dabei. Zum ersten Mal fliessen auch Tränen. Einem Jungen ist dabei bewusst geworden, dass seine beiden erst vor kurzem gestorbenen Großväter bei ihm eine tiefe Verletzung hinter-lassen haben. Die Übung hat also diese Wunde psychisch „aufgeschnitten“, so dass sie endlich bluten kann. Der Junge erhält nun in der Gruppe viel Trost. Endlich fühlt er den Mut und die Kraft, seine Trauer zuzulassen und vor allen zu weinen – auch eine Stärke des inneren Kriegers. Dieser Thematik „Trauern“ will er sich nun bewusst stellen und damit auch hinaus in die Solozeit des dritten Tages gehen. Dazu fühlt er nun Kraft und Klarheit.
Ein Mädchen ist mit der Erkenntnis zurückgekommen, dass sie bereits mehrmals durch Freundschaften sehr verraten und verletzt worden ist. Ihre Aufgabe könnte daher die einer „Kriegerin des Lichts“ sein: zu benennen, welche Freundschaften zerbrochen sind, die Trauer darüber geschehen, die verlorenen Beziehungen dann ganz bewusst gehen lassen und so wieder offen für Neues werden. Der Schritt verlangt wirklich viel Mut und Kraft – ihre „Amazonenkraft“. Diese Thematik wird sie dann auch „allein da draußen im Wald“ während der bevorstehenden Solozeit begleiten.
Am Morgen des dritten Tages ist es dann soweit: Die Jugendlichen werden bereits um 6.00 Uhr mit Trommeln geweckt. Ohne Frühstück geht es anschließend sofort zum Wald. Dort haben die Leiter einen Steinkreis gelegt, der wieder das Medizinrad darstellen soll. Nach einem kurzen Abschied voneinander tritt jedes Mädchen und jeder Junge allein und sehr bewusst in den Kreis. Mit einer Bussardfeder schneiden die Leiter symbolisch jeden Kontakt zur bisherigen Welt durch. Bereits beim Raustreten aus dem Steinkreis gilt nun jeder Initiant als unsichtbar und verschwindet danach sofort im Wald – in die Anderswelt. Mit dabei hat er nur einen Schlafsack, eine Matte, eine Regenplane, einen kleinen Rucksack mit etwas Wechselwäsche und fünf Liter Wasser.
Die Jugendlichen haben sich vorher verpflichtet, auf drei Dinge zu verzichten, die doch sonst das Leben sehr bestimmen: auf jede Nahrung, auf eine feste Behausung und auf jeden Kontakt zu irgendeinem Menschen. Darum haben sie bereits nach dem Wecken ihre Uhr, ihren MP3-Player, Handy oder Smartphone abgegeben. Fasten müssen sie etwa 40 Stunden lang, denn schon am Abend zuvor gab es die letzte Nahrungsaufnahme: nur noch eine Suppe zur Einleitung des Fastens.
Die Leiter wissen ungefähr den bereits am Vortag ausgesuchten Platz, wo die Initianten die Nacht in einem selbst angefertigten Kreis aus Steinen und Ästen verbringen werden; und der sogenannte „Buddy“, also der Kumpel, der mit seinem Lagerplatz am nächsten ist, weiß den Platz des Nachbarn auch. Zum Sicherheitssystem gehört auch noch eine Trillerpfeife, die aber nur im absoluten Notfall eingesetzt werden darf. Vor dem Abschied am Morgen musste jeder Teilnehmer vor der Gruppe und den Leitern versprechen, dass er während der Solozeit alles unterlassen würde, was ihn selbst oder die Gruppe gefährden könnte. Bei einer Verletzung oder bei einer etwaigen irrationalen Panikattacke können die Teilnehmer natürlich immer zu uns Leitern zurückkommen. Darum verbringen wir die ganze Solozeit tagsüber vor dem Wald, nachts unter einer Plane zwischen Bäumen am Waldrand.
Um es kurz zu machen: Alle Teilnehmer halten die 24 Stunden durch. Am Morgen des nächsten Tages werden sie dann wieder einzeln am Steinkreis empfangen und symbolisch mit der bereits erwähnten Bussardfeder sichtbar gemacht. Beobachtet werden sie dabei auch von ihren Eltern, die schon in der Nacht angereist sind und vermutlich mehr Ängste als die Jugendlichen selbst ausgestanden haben. Nach einer kurzen Begrüßung geht es schweigend zum Seminarzentrum zurück. Damit keiner verhungert, wurde jeder Initiant von den Leitern mit einer bayerischen Brezel und einer Tasse Kräutertee zum Fastenbrechen begrüßt. Jetzt hat der dritte und letzte Teil des WalkAway begonnen: die Rückkehr und die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft.
Denn nun erzählt jeder Teilnehmer – wieder mit dem Sprechstab – von seinen Erlebnissen während der Solozeit. Alle hören zu – besonders die Eltern. Dabei sitzen die Initianten und die Leiter im Innenkreis, die Eltern und Geschwister außen. Die Teilnehmer mussten teilweise mit ganz irrationalen Hungerattacken kämpfen und sich einer furchtbaren Langeweile oder Einsamkeit stellen. Die meisten hatten einige erstaunliche Tierbegegnungen – ein Junge und ein Mädchen hatten beispielsweise nachts je einen Wildschwein-Besuch.
Die Leiter versuchen anschließend, die Geschichten hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung zu deuten. Auch die Eltern geben ihren Kindern öffentlich eine Rückmeldung, indem sie deren Mut und Entschiedenheit, nun mehr ins eigene Leben gehen zu wollen, vor allen bestätigen und würdigen. Die ganze Veranstaltung klingt dann mit einem gemeinsamen Brunch aus, den die Eltern von zu Hause mitgebracht haben. Mir als Leiter bleibt nur noch, allen TeilnehmerInnen meine absolute Hochachtung vor diesem großen Schritt hin zu mehr Selbständigkeit und Erwachsenwerden auszusprechen.Möglich wurde dies aber nur, weil sich jede und jeder mutig der heilenden Kraft des Alleinseins und der Stille ausgesetzt hat, wovor heute viele Jugendliche – und Erwachsene! – solche Angst haben.
Peter Maier
Gymnasiallehrer in Bayern, Lehrer für Themenzentrierte Interaktion, Super-visor, Initiations-Mentor und Autor.
Von dem Autor sind folgende Bücher erschienen:
„Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale“ (ISBN 978-3-86991-404-6; MV-Verlag Münster;16,50 €)
„Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band II: Heldenreisen.“ (ISBN 978-3-86991-409-1; MV-Verlag Münster; 16,80 €)
Bezug und weitere Infos: www.initiation-erwachsenwerden.de
(Artikel erschienen in LICHTSPRACHE Nr. 84)